Potenzgrad und Dosierung homöopathischer Arzneimittel

Für eine erfolgreiche homöopathische Behandlung ist die treffende, d.h. nach den Regeln des Ähnlichkeitsgesetztes erfolgte Mittelwahl eine entscheidende Vorraussetzung. Nicht weniger wichtig ist die Frage nach den angemessenen Arzneigaben und deren  zeitlichen Abständen. Innerhalb der zahlreichen verschiedenen Strömungen der Homöopathie gibt es eine ganze Reihe unterschiedliche und z.T. sehr widersprüchliche Aussagen zu diesem Thema. In Hahnemanns Organon der Heilkunst findet man wichtige Hinweise zur Frage der homöopathischen Gabe. Sie sind damals wie heute von unveränderter Aktualität und können daher eine verlässliche Orientierung schaffen.

Wesentliche Aussagen zu diesem Thema findet man in den Paragraphen 275 und 276 des Organon. (Hier und im folgenden zitiert nach: Hahnemann, S.: Organon der Heilkunst, Textkritische Ausg. der 6. Aufl., Neuausgabe, Heidelberg: Haug 1999.)

§ 275
Die Angemessenheit einer Arznei für einen gegebnen Krankheitsfall, beruht nicht allein auf ihrer treffenden homöopathischen Wahl, sondern eben so wohl auf der erforderlichen, richtigen Größe oder vielmehr Kleinheit ihrer Gabe. Gibt man eine allzu starke Gabe von einer, auch für den gegenwärtigen Krankheitszustand völlig homöopathisch gewählte Arznei, so muß sie, ungeachtet der Wohltätigkeit ihrer Natur an sich, dennoch schon durch ihre Größe und den hier unnöthigen, überstarken Eindruck schaden, welchen sie auf die Lebenskraft und durch diese gerade auf die empfindlichsten und von der natürlichen Krankheit schon am meisten angegriffenen Theile des Organism, vermöge ihrer homöopathischen Ähnlichkeits-Wirkung macht.

§276
Aus diesem Grund schadet eine Arznei, wenn sie dem Krankheitsfalle auch homöopathisch angemessen war, in jeder allzu großen Gabe und in starken Dosen um so mehr, je homöopathischer und in je höherer Potenz sie gewählt war, ... Allzu große Gaben einer treffend homöopathisch gewählten Arznei und vorzüglich eine öftere Wiederholung derselben, richten in der Regel großes Unglück an ...

Hahnemann beschreibt hier, dass bei Verabreichung einer zu großen Menge, einer zu hohen Potenz oder einer zu häufigen Wiederholung der Arznei der Erfolg einer Behandlung zunichte gemacht werden kann, selbst wenn das Mittel völlig passend homöopathisch gewählt war. Darüber hinaus kann dies zu heftigen, unerwünschten Reaktionen des Organismus führen, und das umso mehr je treffender das Arzneimittel gewählt war.
Bei der Gabenverordnung eines Arzneimittels spielen also neben dem Potenzgrad die Gabengröße (Dosis) und die Häufigkeit der Gabenwiederholung eine entscheidende Rolle.

Die Potenz gibt Auskunft über die Dynamisierungsschritte, d.h. wie oft eine Arznei im Laufe ihrer Herstellung verschüttelt (bzw. verrieben) und in welchem Verhältnis sie verdünnt wurde und lässt damit Rückschlüsse auf den Wirkradius und die Wirktiefe der Arzneigabe zu.

Die Gabengröße oder Dosis bezieht sich auf die Quantität einer Arzneimittelgabe und meint damit z.B. die Menge der verabreichten Globuli und deren Größe, die Tropfenzahl bei einer Auflösungen u.s.w. Hahnemann selbst und viele andere Homöopathen messen aufgrund ihrer Erfahrung der Dosis eine überaus wichtige Bedeutung bei. Auch in der täglichen Praxis bestätigt sich das immer wieder und ist deutlich zu erkennen, wenn man die Reaktionen nach einer Arzneimittelgabe aufmerksam und differenziert beobachtet. Der immer wieder vorgebrachte Meinung, die Dosis des verabreichten Arzneimittels sei völlig unerheblich und lediglich die Potenz spiele eine Rolle, muss daher widersprochen werden.

Die Frage, was denn nun eine angemessene homöopathische Gabe ist und nach welchen Kriterien sie gefunden werden kann ist immer wieder heftig umstritten und wird viel diskutiert. In Paragraph 278 Organon äußert sich Hahnemann zu diesem Thema folgendermaßen:

§278
... Diese Aufgabe zu lösen, für jede Arznei insbesondere zu bestimmen, welche Gabe derselben zum homöopathischen Heilzwecke genüge und dabei doch so klein sei daß die sanfteste und schnellste Heilung dadurch erreicht werde, ist, wie man leicht einsehen kann, nicht das Werk theoretischer Mutmaßung; ... Einzig nur reine Versuche, sorgfältige Beobachtung der Erregbarkeit jedes Kranken und richtige Erfahrung können dies in jedem besonderen Falle bestimmen ...

Schematische Dosierungsanleitungen kann es demnach also nicht geben. Neben der oben beschriebenen individuellen Reaktionslage jedes einzelnen Menschen können genauso gut auch die Art der Erkrankung  (chronisch oder akut), die Art der Arznei, die unterschiedlichen Herstellungsweisen der Arzneimittel (handverschüttelt oder maschinell verschüttelt) oder die äußeren Umstände (Lebensverhältnisse) eine Rolle bei der Verordnung  spielen, um hier nur einige zu nennen. Bleibt also die Frage, woran man sich denn nun, die Frage der Gabenverordnung betreffend, orientieren soll und kann?

Das oben Gesagte legt nahe, dass man immer bestrebt sein muss, die kleinst mögliche Gabe zu wählen um unerwünschte Arzneimittelreaktionen zu vermeiden. Man kann aus der homöopathischen Literatur folgende Empfehlung ableiten, deren Gültigkeit ich in eigener Praxis immer wieder bestätigt finde:
Als erste Gabe einer Arznei z.B. in der Potenz C30 ist ein Globulus oder ein  Tropfen ausreichend. Wenn weitere Arzneigaben nötig sind, sollte die Arznei modifiziert werden. Man gibt dazu die Arzneigabe in ein halbes Glas Wasser und nach 10 mal umrühren wird 1 Teelöffel davon eingenommen. Falls nötig wird aus dem gleichen Glas, nach wieder 10 mal umrühren, eine weitere Gabe gegeben u.s.w. Durch das 10-malige Verrühren der Arzneiauflösung vor jeder weiteren Einnahme wird der Potenzgrad jedes Mal etwas erhöht.

In § 246 führt Hahnemann dazu aus, dass eine Heilung rascher und zufriedenstellender verläuft - unter der Bedingung, ... daß der Potenz-Grad jeder Gabe von dem der vorgängigen und nachgängigen  Gabe um Etwas abweiche, damit das, zur ähnlichen Arzneikrankheit umzustimmende Lebensprinzip, nie zu widrigen Gegenwirkungen sich aufregt und empört fühlen könne, wie bei unmodificiert erneuten Gaben, vorzüglich schnell nacheinander wiederholt, stets geschieht.

Unter Modifizierung  versteht man also eine geringfügige Veränderung des Potenzgrades einer Arznei zur jeweils vorhergehenden Arzneigabe. Gabenwiederholungen ohne vorher erfolgte Modifizierung werden vom Organismus nicht gut vertragen und es kommt weit schneller zu unerwünschten Arzneisymptomen, welche den Heilungsverlauf empfindlich stören können.

Die Potenz sollte dem Fall entsprechend und vor allem nicht zu hoch gewählt werden Dabei müssen die Besonderheiten der jeweiligen Potenzreihen  (D-,C-, oder Q-Potenzen) berücksichtigt werden. Die Anwendung der Q-Potenzen unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von einer  Behandlung  mit C-Potenzen. Deshalb sollten Q- Potenzen nur nach eingehender Beschäftigung mit den Besonderheiten ihrer Wirkungsweise angewendet werden.

Des weiteren ist die genaue Beobachtung der Reaktionen nach Verabreichung einer Arznei ganz entscheidend! Um beurteilen zu können ob ein Mittel richtig gewählt ist und wie die weitere Vorgehensweise sein soll, ist es unbedingt notwendig genau darauf zu achten, welche Reaktionen des Organismus nach der Arzneimittelgabe auftreten. Eine aufmerksame Verlaufskontrolle ist daher unverzichtbar.

Es sollen im folgenden nur die wertvollsten Hinweise aus dem Organon kurz skizziert und dabei lediglich Reaktionen in akuten Krankheitsfällen berücksichtigt werden.

1. Fall

Nach Verabreichung eines Globulus, z.B. in der Potenz C30, tritt eine deutliche Besserung der Beschwerden auf. Was ist zu tun?

§ 246
Jede, in einer Cur merklich fortschreitende und auffallend zunehmende Besserung ist ein Zustand der, so lange er anhält, jede Wiederholung irgend eines Arznei-Gebrauchs durchgängig ausschließt ...

Das bedeutet, so lange eine zunehmende Besserung anhält ist von der noch andauernden Wirkung des eingenommen Mittels auszugehen und deshalb von weiteren Einnahmen keinerlei Vorteil zu erwarten, etwa im Sinne einer weiteren Beschleunigung der Heilung. Im Gegenteil. Setzt man immer wieder den selben homöopathischen Reiz in die fortschreitende Besserung hinein, stört man den Verlauf und gefährdet den Erfolg indem man unter Umständen eine Arzneimittelprüfung provoziert.

Erst wenn die Wirksamkeit der verabreichten Gabe nachlässt, welches sich durch eine erneute Verschlechterung der vorherigen Symptomatik anzeigt, ist eine weitere Einnahme der bereits verabreichten homöopathischen Arznei in modifizierter Form angezeigt.   

2. Fall

Nach kurzer vorübergehender Verschlechterung setzt eine deutlich fortschreitende Besserung  ein.
In den Paragraphen 157-159 Organon wird dieses Phänomen beschrieben:

§157
So gewiß es aber auch ist, daß ein homöopathisch gewähltes Heilmittel, ..., die ihm analoge, acute Krankheit ruhig aufhebt und vernichtet, so pflegt es doch (aber ebenfalls nur bei nicht gehörig verkleinerten Gabe) gleich nach der Einnahme- in der ersten, oder den ersten Stunden- eine Art kleiner Verschlimmerung zu bewirken ...

§158
Diese kleine homöopathische Verschlimmerung, in den ersten Stunden - eine sehr gute Vorbedeutung, daß die acute Krankheit meist von der ersten Gabe beendigt sein wird - ist nicht selten, da die Arzneikrankheit natürlich um etwas stärker sein muß als das zu heilende Uebel ...

§159
Je kleiner die Gabe des homöopathischen Mittels, desto kleiner und kürzer ist auch bei Behandlung acuter Krankheiten, diese anscheinende Krankheitserhöhung in den ersten Stunden.

Es kann also nach Gabe eines passenden Mittels zu einer Erstreaktion im Sinne einer kleinen  Verschlimmerung der Beschwerden kommen. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass Hahnemann hier von einer kleinen (!) Verschlimmerung spricht und ausdrücklich betont, dass Dauer und Heftigkeit der Erstreaktion mit der Potenz und der Dosierung in direktem Zusammenhang stehen. Die Erstverschlimmerung fällt umso kleiner aus, je geringer und dem Organismus angepasster die Arzneigabe war.
Das häufige Auftreten heftiger und langandauernder Erstreaktionen in der eigenen Praxis sollte deshalb für jede Hebamme Anlass sein, die eigenen "Dosierungsgewohnheiten" einmal selbstkritisch unter die Lupe zu nehmen. Entgegen der landläufigen Meinung braucht es keine überaus heftige Erstreaktion um eine homöopathische Heilung zu bewirken.

Tritt nun eine Erstreaktion ein kann man davon ausgehen, dass  keine weitere Einnahme des Mittels mehr nötig sein wird.  Die Krankheit ist bereits überstimmt. Eine erneute Einnahme des Mittels in die Erstreaktion hinein wäre sogar ein Fehler, da es die Erstverschlimmerung nur weiter verstärken und damit den Leidensdruck für die behandelte Person unnötig erhöhen und die Heilung verzögern würde.

3.Fall

Einige der Beschwerden werden besser, wobei gleichzeitig neue Beschwerden auftreten. Es treten so genannte Nebensymptome auf.

§163
In diesem Falle (wenn das Mittel nicht richtig gewählt wurde und nur teilweise passt. Anm. der Autorin) lässt sich freilich von dieser Arznei keine vollständige, unbeschwerliche Heilung erwarten; denn es treten als dann bei ihrem Gebrauche einige Zufälle (Symptome) hervor, welche früher in der Krankheit nicht zu finden waren, Nebensymptome von der nicht vollständig passenden Arznei ...

Dies bedeutet, wenn neue beschwerliche Symptome auftreten und sich gleichzeitig ein Teil der  vorher bestandenen Symptome bessert, sollte man immer in Betracht ziehen, dass es sich dabei um eine Arzneimittelreaktion auf ein nicht ganz passend gewähltes Mittel handeln kann. Der Organismus produziert so zu sagen einige der Symptome der verabreichten Arznei die nicht zum Krankheitsbild gehören.
In diesem Fall lässt man sich leicht dazu verleiten das gegebene Mittel noch mehrmals zu wiederholen in der irrigen Annahme, es sei schon das Richtige gewesen, nur die Dosis oder Potenz habe noch nicht ausgereicht um die Heilung zu bewirken. Das gleichzeitige Auftreten der neuen Symptome hält man für rein zufällig. Dazu schreibt Hahnemann im § 249, dass jede Verschlimmerung durch neue Symptome immer auf die Unangemessenheit der Arznei aber nicht auf die zu geringe Dosis zurückgeführt werden muss. Auch in diesem Fall kann die mehrmalige Einnahme des Arzneimittels die Situation nur verschlechtern und komplizieren. In §167 empfiehlt Hahnemann die nur teilweise passende Arznei dann nicht einfach auswirken zu lassen, sondern die noch bestehenden alten und die neu hinzugetretenen Symptome gemeinsam für eine neue und jetzt treffendere Mittelwahl heranzuziehen.

4.Fall

Die verabreichte Arznei zeigt keine sichtbare Wirkung  

Die Ursache kann schlicht in einer unpassenden Mittelwahl liegen. Es kann aber auch vorkommen, dass man Reaktionen einfach übersieht oder nicht als solche erkennt, weil man eine auftretende Veränderung nicht zur Mittelgabe in Beziehung setzt. Ein Hinweis Hahnemanns im Organon sollte in diesem Zusammenhang  unbedingt erwähnt werden:

§253
Unter den Zeichen die in allen, vorzüglich in den schnell entstandenen (acuten) Krankheiten, einen kleinen, nicht jedermann sichtbaren Anfang von Besserung oder Verschlimmerung zeigen, ist der Zustand des Gemüths und des ganzen Benehmens des Kranken, das sicherste und einleuchtendste.

Ging also die körperliche Störung mit einer Veränderung des Gemütszustandes einher (Traurigkeit, Unruhe, Gereiztheit ...) so ist  auch eine anfänglich kleine Veränderung auf der Gemütsebene bereits als wichtige Reaktion zu interpretieren, die uns die Wirkungsweise des Mittels bereits anzeigen kann, bevor die körperlichen Symptome sich deutlich verändern. Auch Veränderungen im Schlafverhalten oder bezüglich der Lebenskraft sind in diesem Zusammenhang wichtig zu beobachten. Übersieht man das, kann man unter Umständen  vorschnell auf ein anderes, weniger passendes  Mittel wechseln, weil man das bereits verabreichte für wirkungslos hält.

Man sollte bei einer fehlenden Wirkung aber immer auch daran denken, dass das Mittel durch unsachgemäße Lagerung (Hitze, elektrische Geräte) unbrauchbar geworden sein könnte oder bereits die Herstellung des Mittels fehlerhaft war. Manchmal wird das Mittel auch durch ungünstige Umstände gleich wieder antidotiert. (starke ätherische Öle, viel Kaffeetrinken, Schreck, Zahnbehandlung ...). Ein genaueres Nachforschen kann sich hier manchmal lohnen.

Welches sind nun, auf den Punkt gebracht, die wesentlichsten Aspekte, die es für die Anwendung von homöopathischen Mitteln zu beachten gilt?

  1. Die angemessene Gabenverordnung spielt neben der richtigen Mittelwahl eine entscheidende Rolle für den Erfolg einer Behandlung.

  2. Die Behandlung wird mit der kleinst möglichen Gabe begonnen.

  3. Die Reaktionen des Organismus nach der ersten Einnahme des Mittels geben die entscheidenden Hinweise für das weitere Vorgehen.

  4. Eine zu starke Arzneigabe und eine zu rasche oder zu häufige Wiederholung des homöopathischen Mittels kann trotz guter Mittelwahl den Erfolg der Behandlung zunichte machen.

  5. Ist eine Wiederholung der Arzneieinnahme angezeigt, sollte die Arzneigabe modifiziert werden.

Eine Beachtung dieser Punkte bei der homöopathischen Behandlung wird gute Ergebnisse zeigen, von denen Schwangere, Mütter und Kinder nur profitieren können.

Veröffentlichung im Hebammenforum – Magazin des Bundes Deutscher Hebammen Februar 2005, Seite 98ff.

© (außer angeführte Zitate) Helga Häusler - www.hhaeusler.de

 

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